Seit dem Sommer 2019 ist die Mobilitätslandschaft in Deutschland um ein Fortbewegungsmittel reicher: E-Scooter drängen in den Straßenraum. Wie beim großen Geschwister, dem Roller, sind es vor allem Sharing Anbieter, die die E-Scooter im großen Stil auf die Räder stellen. Schon im Vorfeld der Abstimmung durch den Bundesrat am 17. Mai kündigte eine Vielzahl von E-Scooter Sharing Anbieter an, ihre Dienste auch hierzulande anbieten zu wollen. Die öffentliche Diskussion zu diesem Thema schwankte dabei zwischen "Heilsbringer der urbanen Mobilität" und "Elektroschrott auf dem Gehweg". Nach Einführung der neuen Fahrzeugklasse haben sich diese Meinungspole eher noch verstärkt. Wir wollen in dieser zuletzt durchaus kontrovers geführten Diskussion um das Für und Wider dieser Sharingsysteme einen nüchternen und datengetriebenen Debattenbeitrag leisten und zeigen, welche Potentiale in den neuen Vehikeln liegen - und welche eben nicht.
In Deutschland sind aktuell sechs größere Anbieter aktiv, Circ, Lime, Tier, Voi, Jump und Bird, so wie einige kleinere Anbieter. Viele von ihnen standen dabei im Ausland bereits vor der Einführung in Deutschland in Konkurrenz zueinander. In Berlin beispielsweise haben inzwischen sieben Anbieter ihren Betrieb aufgenommen. Damit befinden sich nun Sharing Scooter in allen europäischen Metropolen bis auf London.
Doch nicht nur in den Großstädten gehen E-Scooter in den Verleih: Unsere Untersuchung zeigt, dass die Anbieter inzwischen auch mittelgroße Städte mit rund 200.000 Einwohnern oder weniger wie Lübeck, Mainz, Erfurt oder Ingolstadt in ihre Expansionsstrategie aufgenommen haben.
In der Karte haben wir die Anbieter je Stadt zusammengetragen. Der Markt ist jedoch noch im Hochlauf und sehr dynamisch, sodass wir möglicherweise nicht jeden Start direkt abbilden können.
Flottengrößen je Anbieter, Ausleihen pro Quadratkilometer, Fahrten pro Tag, durchschnittliche Standzeiten: die Shared Mobility hat ihre ganz eigenen Kennzahlen. Einige der Anbieter haben in ihren Buchungssystemen Softwareschnittstellen für den Datenaustausch vorgesehen. Über diese kann man die Positionen der gerade verfügbaren E-Scooter sowie ihren Ladezustand abfragen. Mittels regelmäßiger Anfragen an diese Schnittstellen haben wir ein Bild der räumlichen und zeitlichen Verfügbarkeit von E-Scootern dieser Anbieter abgebildet. So konnten wir für verschiedene deutsche und auch europäische Städte Daten der Anbieter Lime, Tier, Voi und Circ auswerten. Dabei liegen uns für Circ nur Daten nicht-deutsche Städte vor.
Bei Bediengebieten und Flottengrößen fängt die strategische Umsetzungsplanung der Anbieter an. Diese sollten für jede Stadt maßgeschneidert sein, denn im free-floating Sharing bestimmen diese beiden Faktoren entscheidend die Fahrzeugverfügbarkeit mit. In die Endkundensprache übersetzt, heißt das: "Kriege ich hier noch einen Scooter?" oder "Wie weit ist es bis zum nächsten freien Fahrzeug?". Andererseits lässt sich aus diesen Kennzahlen ablesen, ob die E-Scooter tatsächlich die Städte überschwemmen, wie vielfach befürchtet. Fürsprecher dürften die Anzahl der E-Scooter mit der Anzahl von Fahrrädern, Autos und anderen Sharing Anbietern der Stadt vergleichen. Für uns ist es wichtig, die Anzahl der E-Scooter je Anbieter und Stadt darzustellen. Dazu haben wir die unterschiedlichen Scooter-IDs zwischen dem 20.08. und 30.09. in unseren Daten ausgewertet. Lime hat hier, in fast allen Städten in denen das Unternehmen aktiv ist, zahlenmäßig die Nase vor.
Ein paralleler Start von ähnlichen Produkten verschiedener Wettbewerber in einem viel versprechenden Marktumfeld - für Volkswirte ist das häufig eine spannendere Situation als eine Fußballweltmeisterschaft. Tatsächlich sind in einem Markt, in dem traditionell Nutzungsdaten (individuelle Ortsveränderungen) nur aufwändig zu beschaffen waren (Verkehrserhebungen), die beim E-Scooter Sharing verfügbaren Nachfragekennzahlen eine echte Besonderheit. Die vollständige Beobachtung einer Marktdiffusion war vor 15 Jahren noch undenkbar. In der nächsten Grafik haben wir die Anzahl der gesichteten E-Scooter (bezeichnet durch unterschiedliche IDs) für die von uns im deutschen Markt betrachteten Städte im zeitlichen Verlauf ab dem 20.6.2019 dargestellt. Mit der Vergabe der kommunalen Lizenzen ab dem 19.06. setzte die eigentliche Diffusion in den Markt ein.
Die E-Scooter werden als Beitrag zur Lösung innerstädtischer Mobilitätsprobleme oder als Last-Mile Angebot in Randlagen vermarktet. Für uns war daher interessant zu sehen, wie sich die Scooter innerhalb der Städte bewegen. In Kombination mit den Standzeiten zeigen die Rückgaben, wie konzentriert die E-Scooter in welchen Stadtteilen präsent sind und die Bewegungen, wie nachgefragt das Angebot ist. Basierend auf einem Sample unserer Daten haben wir mögliche gefahrene Routen zwischen Ausleih- und Rückgabeorten der Scooter für verschiedene Städte erstellt. Es ist für Berlin zu erkennen, dass die Nachfrage vor allem in der City Ost hoch ist. Unsere Vermutung ist, dass dies auf eine frühe Adaption durch Touristen, die das Angebot ggf. bereits aus dem Ausland kennen, zurückzuführen ist. Ein gutes Indiz hierfür ist die hohe Nachfragedichte im Bereich Friedrichstraße und Unter den Linden - Gebiete in denen auch die touristische Nutzung sehr hoch ist. Eine Last-Mile Nutzung in Wohngebieten lässt sich aus den Daten bisher nur bedingt ablesen.
Nicht allein die Anzahl und Verteilung der E-Scooter ist interessant, sondern mehr noch die Frage, wie häufig diese bewegt werden. Wichtig hierbei ist: Bewegungen sind für uns sichtbar, nicht jedoch, ob diese Bewegung durch Nutzer oder die Disposition der Fahrzeuge durch die Anbieter selbst erfolgt ist. Bedingt durch Ungenauigkeiten in der Datenabfrage und den in den E-Scootern verbauten GPS Systemen sind die Bewegungen je E-Scooter mit Vorsicht zu genießen, bieten aber dennoch eine gute Näherung für die Nutzung. Unsere Erhebung zeigt, dass die Auslastung der einzelnen Fahrzeuge in den untersuchten Städten sehr unterschiedlich ist. Eine geringe Anzahl an Bewegungen pro E-Scooter kann darin begründet sein, dass das Angebot nicht gut angenommen wird oder dass der Markt bereits übersättigt ist und sich die Nachfrage auf zu viele E-Scooter verteilt. Auch bei dieser Auswertung gilt, dass für deutsche Städte keine Daten von Circ vorliegen.
Wir haben uns in den ersten Wochen und Monaten in einer Phase des Ausprobierens des neuen Verkehrsangebotes befunden. Die mediale Aufmerksamkeit war und ist groß, das Wetter überwiegend gut und daher sahen wir natürlich zunächst einen starken Anstieg in den Nutzungszahlen. Noch ist unklar, welche Städte sich für die Anbieter als lukrativ erweisen. Einen Hinweis geben gibt die folgenden zwei Grafiken, in denen wir die Anzahl der Bewegungen pro E-Scooter und Stadt gegen die Anzahl der E-Scooter je Stadt aufgetragen haben. Die Daten deuten darauf hin, dass in der Auslastung der E-Scooter ein Sättigungseffekt eintritt. In Berlin scheint der Markt bereits übersättigt zu sein, trotz großem Fahrzeugangebot sind die durchschnittlichen Bewegungen pro E-Scooter vergleichsweise gering. Dabei ist zu beachten, dass für deutsche Städte keine Daten von Circ vorliegen.
Bequemlichkeitsmobilität, Ergänzung zum ÖPNV oder Alternative zum Auto? Zur Beantwortung dieser Frage sind auch die Distanzen entscheidend, die die E-Scooter zurücklegen. Wir haben die Start- und Endpunkte der Scooterbewegungen ausgewertet und über ein Wegenetz geroutet, um die Fahrweiten mit den Wegelängen anderer Verkehrsträger zu vergleichen.
Eine zentrale Frage für die Einordnung der E-Scooter ist die Art ihrer Nutzung. Touristische und Spaßmobilität? Bequemlichkeitsmobilität? Oder eine echte Ergänzung zum ÖPNV-Angebot? Noch ist es zu früh, hier eine finale Aussage zu treffen. Einen Hinweis kann jedoch die zeitliche Verteilung der Bewegungen geben. Wir haben aus den uns vorliegenden Daten für das Zeitfenster vom 9.9. bis zum 22.9. eine Wochengangslinie der E-Scooter Bewegungen für Hamburg erzeugt. Gut sichtbar ist der Schwerpunkt der Bewegungen am Wochenende und in den späteren Tagesstunden. Dies deutet eher auf eine Nutzung in der Freizeit und durch Touristen hin. Besonders auffällig sind die Tage vom 13.09 bis zum 15.09 an denen die Cruise Days in Hamburg stattfanden.
Die Batterien der E-Scooter müssen regelmäßig geladen werden. Wie dies erfolgt, hängt nicht alleine vom Betriebskonzept der Betreiber ab, sondern auch vom Verhalten der sogenannten "Hunter". Durch Anreize der Anbieter, wie zum Beispiel Freiminuten, sollen diese Helfer leere Scooter finden und laden. Die Kurven zeigen in jedem Fall, dass der durchschnittliche Ladestand morgens deutlich höher ist als abends. Wer also unter Reichweitenangst leidet, leiht lieber morgens aus. Generell lässt sich von den durchschnittlichen Ladeständen am Abend ableiten, dass das Lademanagement der E-Scooter im Großen und Ganzen der Nutzung angemessen ist.
Was lässt sich nun aus den Daten über die ersten Monate der E-Scooter in Deutschland ablesen? Welche Prophezeiungen sind wahr geworden und welche muss der Lauf der Dinge noch be- bzw. widerlegen? Wir haben einige Thesen aufgestellt, die wir gerne diskutieren würden.
Ok, für eine solche Aussage muss man nun kein Prophet sein. Was wir in unseren Daten aktuell sehen, ist eine durchschnittliche Nutzungsrate von bis zu 5 Bewegungen pro Tag und Scooter in einigen Städten. Solche Werte wurden zum Beispiel in der frühen Phase des E-Scooter Sharings ebenfalls erreicht. Hier scheinen insgesamt die Medienpräsenz sowie die Aufmerksamkeit in den Ministerien und Kommunen etwas überhöht. Es zeigt sich, dass man in Deutschland einen gelasseneren Umgang mit Mobilitätsinnovationen noch üben muss.
Die von uns ermittelten Distanzen stehen in direkter Konkurrenz zu Fahrrad sowie dem Fußverkehr und finden zugleich primär in durch den ÖPNV gut erschlossenen Innenstädten statt. Substitution von ÖV-Fahrten sind möglich, sind jedoch im Gesamtvolumen vernachlässigbar. Für den intermodalen ÖV-Nutzer bieten sich neue Alternativen, so dass das Gesamtangebot der urbanen Mobilität jenseits des Privatautos attraktiver werden könnte. Aus unserer Sicht gibt es weder große Vorteile noch eine ernste Gefahr für den ÖV - disruptiert werden maximal die touristischen Segwayverleiher.
Noch ist es etwas früh, um verlässliche Aussagen über die Nachfrage und damit der Überlebensfähigkeit der Systeme zu treffen. Uber Jump ist z.B. gerade erst in den deutschen Markt eingestiegen. Dennoch: Der Markt für Verleihsysteme dürfte sich ähnlich wie beim Bikesharing-Boom des Jahres 2017 schon innerhalb eines Jahres konsolidieren. Die Anbieter werden ihre Geschäftsgebiete auf die lukrativen Innenstadtbereiche beschränken, es sei denn, aufgeweckte Kommunen finden eine geeignete Form der Steuerung.
Die Anbieter und auch die Städte sind nach den Erfahrungen in anderen Ländern sowie durch die Bikesharingschwemme vorgewarnt. Szenen wie in den USA oder China mit weggeworfenen Sharingbikebergen wird es zwar vereinzelt geben (und die Medien werden sich auf diese stürzen), jedoch steuern die Anbieter und Kommunen diesmal entsprechend entgegen. So wird bei den E-Scooter-Anbietern von Beginn an deutlich stärker auf die Kundenaufklärung gesetzt.
Städte sollten weiterhin aktiv auf die E-Scooter Anbieter zugehen. Erfahrungen aus dem Bikesharing haben gezeigt, dass es wirkungsvolle Instrumente im Umgang mit Shared Mobility Anbietern gibt. Leider gilt dies mehr für das europäische Ausland, als für das Inland. Hierzulande sind z. B. die Umwidmung von öffentlichen Pkw-Stellflächen nicht ohne weiteres möglich. In diesem Kontext müssen sich die Städte deutlicher positionieren.
Wir empfehlen den Verkehrsunternehmen, die Konsolidierungsphase nach Markteintritt abzuwarten, bevor grundsätzliche Entscheidungen zum Thema getroffen werden. In dieser Zeit sollten sich die Verkehrsunternehmen auf das Kerngeschäft des ÖV-Betriebs konzentrieren und z. B. das Abstellen an intermodalen Hubs provisorisch adressieren. Kundenkommunikation, temporäre Hinweisschilder sowie eine Sensibilisierung des Servicepersonals könnten hierzu schon ausreichen.
Die Anbieter, die jetzt in den Markt gehen, werden es sich natürlich nicht nehmen lassen, ordentlich aufs Strompedal zu drücken. Dennoch würden wir empfehlen, Geschäftsgebiete von vorne herein zu optimieren. Trial and Error Strategien haben sich als sehr teuer erwiesen.
Nicht jeder Hype muss mitgenommen werden. Wer aber bei einem Mikromobilitätsanbieter einsteigen möchte, sollte den bestehenden Angebotsmarkt genaustens beobachten und realistische Marktpotentialanalysen durchführen, die über die typischen Early Adopters hinausschauen. Zudem ist die jeweilige Motivation der Akteure zu berücksichtigen: Möchte ich meine Mobilitätsplattform ergänzen? Möchte ich ein ehrliches Geschäft im Betrieb? Plane ich ein datengestütztes Produkt für Dritte? Oder suche ich einfach einen finanzstarken Investor?
Was lässt sich nun aus den Daten über die ersten Monate der E-Scooter in Deutschland ablesen? Welche Prophezeiungen sind wahr geworden und welcher Anbieter hat die Nase im Rennen um die Gunst der Kunden vorn? Wir haben einige Thesen aufgestellt, die wir gerne diskutieren würden.
Schicken Sie uns eine MailDie von uns gezeigten Anbieter haben Schnittstellen (APIs) über die wir in regelmäßigen Abständen die Positionen der E-Scooter je Stadt abgefragt haben. Aus den Positionsdaten wurden dann Bewegungen je E-Scooter ermittelt.
Wir sind uns sehr sicher, nicht jede Bewegung eines E-Scooters erfasst zu haben. Unsicherheiten entstehen z.B. über die GPS Positionierung der E-Scooter und das Abfrageintervall. Die Tendenzen der Auswertungen und der Vergleich zwischen Städten sollten jedoch stimmen.
Nicht alle Anbieter stellen Open Data oder Schnittstellen für die Datenabfrage zur Verfügung. Das ist schade, denn somit ermöglichen Auswertungen wie diese nur einen kleinen Einblick in den Markt, die Kommunen und Verkehrsunternehmen helfen.
Nicht jede Bewegung eines E-Scooters ist eine bezahlte Fahrt. Es kann sich auch um Dispositionsbewegungen handeln. Daher lässt sich aus der Zahl der Bewegungen der geschäftliche Erfolg eines Anbieters nur bedingt ableiten.